Chronik einer Großstadt

von Daniel Bettac

Langsam senkt sich die Dunkelheit über die Stadt herab, eine Stadt, deren Name, ebenso wie das Land in welchem sie liegt, hier nicht erwähnt werden soll, die, um die Anonymität ihrer Bewohner zu wahren, hier einfach Stadt X genannt werden wird - eben eine typische Großstadt, wie viele andere auch. Fragen Sie sich nicht auch des öfteren, was am Abend hinter verschlossenen Türen geschieht, wie die Menschen sich unter dem Einfluß der Dunkelheit und eventuell auch des Mondes verändern? Wollten Sie nicht schon immer etwas über die verborgenen Triebe in den Tiefen der Seele wissen, Triebe, die in jedem von uns stecken, in mir, in Ihnen, in ihren unauffälligen Nachbarn? Was tut wohl der nette Briefträger, der Ihnen jeden Morgen Ihre Post vorbeibringt, wenn er abends verstohlen in den Stadtpark schleicht, mit dem großen Fleischermesser in seiner Tasche? Über viele Jahre hinweg wurden hier die spektakulärsten Vorfälle der Stadt X aufgezeichnet, recherchiert und, soweit möglich, rekonstruiert. Das Ergebnis sehen Sie hier vor sich: Eine Sammlung des Grauens, des Unheimlichen oder einfach Merkwürdigen, eine Sammlung menschlicher Schicksale, Tragödien am Rande dessen, was unser Unterbewußtsein wahrnimmt, dem wir uns aber nur selten wirklich stellen.
Doch bevor Sie weiterlesen, sollten Sie sich über Eines im klaren sein: Es handelt sich hier nicht um Augenzeugenberichte, sondern um Rekonstruktionen. Natürlich könnten die Ereignisse sich anders abgespielt haben; aber warum sollte es nicht tatsächlich so geschehen sein? Ist die Wirklichkeit denn weniger grausam als die Phantasie?


Entscheidung

Warum in die Ferne schweifen? Sieh, das Gute ist so nah...

Die Schmerzen kommen jetzt in Wellen, regelmäßig, immer gleich stark. Ich kann meine Beine nicht mehr spüren, aber das stört mich nicht wirklich. Tief aus meinem noch wachen Unterbewußtsein kommt der Gedanke, daß ich wahrscheinlich mit Schmerzmitteln vollgepumpt worden bin. Auch das stört mich nicht im Geringsten, ich finde es eher angenehm. Ich erinnere mich langsam wieder an den Unfall. Dem Autofahrer kann ich nicht böse sein, schließlich bin ich auf der Straße hingefallen, er konnte unmöglich rechtzeitig bremsen. Und außerdem, erinnere ich mich jetzt, hat er mich hier besucht, hat mit mir geredet, sich entschuldigt. Obwohl ihn, wie ich schon sagte, keinerlei Schuld trifft. Ich habe mir geschworen, wenn ich wieder gesund bin, werde ich nie wieder bei Rot über die Straße laufen.
Die Mittel fangen anscheinend erst jetzt richtig an zu wirken, denn die Schmerzen werden schwächer. Eigentlich ist es jetzt gar nicht mehr so unangenehm, hier zu liegen. Ich habe viel Zeit zum Nachdenken. Schade ist nur, daß auch meine Augen verbunden sind. Ich kann nichts sehen, nicht einmal Hell von Dunkel unterscheiden. Eine angenehme Müdigkeit durchflutet mich. Meine Gedanken beginnen zu treiben. Ich bilde mir ein, Musik zu hören. Sehr leise und aus weiter Entfernung, Musik, welche ich nie zuvor gehört habe, aber wunderschön. Noch während ich über diese Musik nachdenke, wird sie allmählich lauter. Sie schwillt an, wird fordernd, lockend. Dann erscheint in der Entfernung ein Licht, ein weißes, sehr stark leuchtendes Licht. Ohne darüber nachzudenken stehe ich auf und gehe darauf zu. Erst, als ich schon eine Weile gegangen bin, erreicht diese Tatsache mein Bewußtsein. Als ich verwundert zurückschaue, sehe ich mich selbst, in einem Krankenhausbett, umwickelt mit Verbänden, an viele, kompliziert aussehende Geräte angeschlossen. Es kostet mich alle Willenskraft, der verlockenden Musik zu widerstehen und anzuhalten.
Dann, ganz plötzlich, ist der Widerstand überwunden, ich kann leicht und ungehindert zurückgehen. Die Musik verstummt, das Licht wird schwächer. Ich stehe wieder vor dem Bett und sehe auf mich selbst herab. Mein Gesicht ist von Mullbinden verhüllt, unter den Binden ragen viele Schläuche hervor. Dort, wo sich meine Beine befinden sollten, ist nur die Bettdecke, flach und konturlos. Ein Arm ist mehrfach gebrochen und in ein Gestell eingehängt. Langsam beginnen sich bei mir Zweifel zu regen. In meiner Erinnerung spüre ich wieder die Schmerzen, höre die Worte der Ärzte, die von Therapie und sechzigprozentigen Heilungschancen sprachen.
Leise und fordernd ertönt wieder die Musik hinter mir, diesmal jedoch leiser und nicht so überwältigend. Ich spüre, daß ich meine Entscheidung jetzt treffen muß, mit allen Konsequenzen. Mit einer letzten Willensanstrengung entschließe ich mich für das Leben.
Doch dieser Moment innerer Stärke dauert nicht lange an. Ich spüre, wie jegliche Kraft entweicht und wie ich langsam anfange, meinen Weg dem hellen Licht entgegen weiterzugehen. Jetzt ist der Schein des Lichtes fast unerträglich. Vom Licht geblendet gelange ich schließlich zum ersehnten Ziel.


Depressionen

Dead is life's way of telling: "You've been fired!"

Ich sitze am Meer, höre die Wellen rauschen, genieße die Ruhe und den Frieden. Meine Gedanken schweifen ab, Bilder tauchen vor meinem inneren Auge auf, teils Erinnerungen, teils Träume, untrennbar miteinander verwoben. Die Zeit vergeht, die Sonne verschwindet hinter dem Horizont, aber ich bleibe sitzen. Langsam, ganz langsam beginnt ein Gedanke sich zu wiederholen, er scheint um mich zu kreisen, mich beeinflussen zu wollen.
Die Dunkelheit um mich wird nur noch von ein paar vereinzelten Sternen erhellt, weit und breit sind keine anderen Menschen zu sehen. Ich stehe auf, schüttle den Sand von mir. Das Rauschen der Wellen scheint lauter zu werden, als ich langsam auf das Wasser zugehe. Schon umspülen sie meine Füße, ein angenehmes Gefühl, denn das Wasser ist warm. Schritt für Schritt gehe ich weiter hinein, und mit jedem dieser Schritte fühle ich mich leichter. Schließlich reicht das Wasser mir bis zu den Hüften, das Laufen ist anstrengend, und ich fange deshalb an zu schwimmen. Mit langsamen, gleichmäßigen Stößen entferne ich mich vom Ufer, ungeachtet meiner Kleidung, die, mit Wasser vollgesogen, schwer geworden ist und versucht, mich nach unten zu ziehen. Hinter mir höre ich noch das Rauschen der Brandung, aber ich schaue nicht zurück, sondern schwimme weiter. Immer mehr Sterne erscheinen am Himmel, doch die Dunkelheit wird nicht geringer. Nur das Auf und Ab der Wellen dringt an mein Bewußtsein, es macht mich schläfrig, aber ich schwimme weiter. Das Rauschen der Brandung höre ich schon seit einiger Zeit nicht mehr. Meine Arme beginnen zu ermüden. Endlich drehe ich mich um, schaue zurück, aber ich kann das Ufer nicht mehr erkennen. Meine Kräfte sind erschöpft und meine Kleidung zieht immer noch an mir. Ich gebe nach, lasse mich treiben.


Flucht

Terrorismus ist nicht unangreifbar: Was geschähe wohl, wenn man islamische Terroristen öffentlich durch Ertränken in Schweinefett hinrichten würde?

Mein eigenes Keuchen übertönt inzwischen schon die Geräusche, die meine Verfolger hinter mir machen. Ich renne zwischen Bäumen hindurch, Zweige peitschen mein Gesicht, ich stolpere über Wurzeln, rutsche auf feuchten Blättern aus. Aber irgendwie gelingt es mir immer, das Gleichgewicht zu behalten und weiterzulaufen. Ich halte kurz an, versuche, meinen Atem zu beruhigen, rücke meinen Rucksack zurecht und höre dabei meine Verfolger näherkommen. Wenn ich nicht bald ein geeignetes Versteck finde, das weiß ich genau, werden sie mich einholen. Und ich habe geschworen, daß sie mich nicht lebendig bekommen werden. Zu viele Menschenleben hängen davon ab, daß ich meine Informationen für mich behalte.
Ein unterdrückter Fluch ganz in meiner Nähe läßt mich aufschrecken. Leise schleicht ein Schatten an mir vorbei, höchstens einen Meter von mir entfernt, ich könnte den Mann fast berühren. Ich wage kaum zu atmen, aber dann ist er vorbei. Langsam und vorsichtig bewege ich mich jetzt seitwärts zu meiner vorherigen Laufrichtung, immer nach weiteren Verfolgern Ausschau haltend, immer auf der Hut vor einem Hinterhalt. Durch das helle Mondlicht ist es manchmal sehr schwer, in Deckung zu bleiben. Dann stehe ich vor einer Lichtung, hell erleuchtet, bewachsen nur mit kurzem Gras. Es kostet mich sehr viel Zeit, sie zu umgehen, denn auf der anderen Seite sehe ich zwei weitere Männer, fast perfekt getarnt im Unterholz. Aber ihre Schuhe sind zu sehen, frisch poliert und trotz der Jagd durch den Wald immer noch glänzend. Aber auch dieses Hindernis ist endlich bewältigt, weiter geht die Flucht.
Die Lichter der Taschenlampen scheinen sich hinter mir zu verlieren, die Stimmen leiser zu werden. Trotzdem bin ich immer noch sehr vorsichtig, verliere nicht die Beherrschung. Das rettet mir das Leben ein weiteres Mal: Vor mir steht urplötzlich eine Frau in Tarnkleidung. Glücklicherweise wendet sie mir gerade den Rücken zu, als ich durch ein Gebüsch spähe. Ohne auch nur ein Geräusch zu machen, krieche ich weiter in dieses Gebüsch hinein und schaufle zusätzlich ein paar Handvoll Erde und altes Laub über mich. Die Frau spricht in ein Handfunkgerät, was sie sagt, kann ich leider nicht verstehen. Eine Spinne krabbelt mir über das Gesicht, läßt sich auf meinem linken Auge häuslich nieder und will sich von dort trotz heftigen Kopfschüttelns nicht verscheuchen lassen. Ich muß sie dort lassen, eine Bewegung meiner Arme würde mich jetzt verraten.
Lange liege ich so da, flach an den Boden gepreßt, inzwischen vor Kälte zitternd, der Entdeckung sehr nahe. Endlich ertönt ein leises Knacken aus dem Funkgerät der Frau. Leise spricht sie hinein, horcht auf die Antwort und spricht wieder. Dann geht sie zügig in die Richtung davon, aus der ich gekommen bin. Sowie sie außer Hörweite ist, stehe ich auf. Daß die Spinne inzwischen nicht mehr da ist, überrascht mich ziemlich. Ich habe ihr Wegkrabbeln nicht bemerkt.
Der Mond ist inzwischen weitergewandert, jetzt steht er schräg am Himmel und die Bäume werfen lange Schatten in seinem Licht. Für mich ist das genauso gut wie schlecht, denn jetzt habe ich zwar mehr Deckung, meine Verfolger aber auch. Warum ich mich plötzlich umdrehe, weiß ich nicht. Da steht die Frau wieder hinter mir, bewegungslos, etwa zehn Meter entfernt, im Schatten eines Baumes. Sie schaut mich an und hebt ganz ruhig ihren Arm. Jetzt sehe ich auch die kleine Pistole in ihrer Hand. Meine Finger greifen unbemerkt nach der letzten mir noch verbliebenen Handgranate. Hinter meinem Rücken entsichere ich sie, so daß sie sofort explodieren muß, wenn ich loslasse. Die Frau geht auf mich zu. Ein böses Lächeln geht über ihr Gesicht, mit fordernder Gebärde streckt sie ihre freie Hand aus. Ich nehme meinen Rucksack ab, halte ihn ihr hin. Als sie danach greifen will, zeige ich ihr meine andere Hand. Ihr Gesichtsausdruck ändert sich schlagartig, nackte Angst spiegelt sich in ihren Zügen wieder. Dann höre ich andere Leute näherkommen, kann teilweise schon ihre Gestalten zwischen den Bäumen erkennen. Jetzt lächle ich. Mit zwei schnellen Schritten stehe ich direkt neben der Frau. Und lasse los.


Schuld und Sühne

Wenn die Sonne am Horizont
aufgeht, die Nacht vertreibt, das
Land in goldenes Licht einhüllt.
Wenn die ersten Vögel des Morgens
singen, Sonnenstrahlen sich brechen im Tau.
Dann schlage ich meine Augen auf -
und denke an Dich.

Wenn die Sonne hoch am Himmel
steht, Schatten verkleinert, die
Luft zum Flimmern bringt.
Wenn selbst die Tiere von der Hitze
fast betäubt, der Wind erstorben ist.
Dann sitze ich im Schatten -
und denke an Dich.

Wenn die Sonne am Horizont
versinkt in roten Wolkenbergen, ein-
hüllend das Land in rotgoldenes Licht.
Wenn die Vögel erklingen lassen ihr
letztes Lied, die Nachtigall singt.
Dann genieße ich Ruhe und Frieden -
und denke an Dich.

Wenn der Mond hoch am Himmel
steht, das Licht der Sterne scheinbar
versilbert das Land.
Wenn die Geräusche der Nacht nur zu hören
sind, die Grillen zirpen.
Dann schlafe ich friedlich -
und träume von Dir.

Was ich getan habe, tut mir wirklich leid. Aber ich kann es nicht mehr rückgängig machen. Jetzt nicht mehr. Dafür büßen, ja, das ist möglich. Und genau das werde ich auch tun, ich verspreche es. Gleichzeitig bitte ich Dich um Verzeihung, mein Liebling. Du weißt, die Urlaubsreise war nicht allein meine Idee, aber ich war die treibende Kraft, wo Du noch unschlüssig warst. Ich war es auch, der unbedingt fliegen, der auf keinen Fall mit dem Schiff fahren wollte. Aber hätte ich gewußt, welche Folgen mein beharrliches Drängen haben würde, ich hätte es niemals getan, das mußt Du mir einfach glauben. Der Flugzeugabsturz in der Wüste war ein unvorhersehbares Unglück. Und dann die schrecklichen Schmerzensschreie, die Du ausgestoßen hast. Ich konnte es nicht länger ertragen, so gab ich Dir Beruhigungsspritzen. Ich nehme an, das meiste hast Du dann nicht mehr wahrgenommen, nur in den kurzen Pausen, wenn die Wirkung der Drogen nachließ und ich Dir noch keine neuen verabreicht hatte.
Und dann kam der schreckliche Moment, da ich Dir die letzte Spritze gab. Es waren wirklich alle aufgebraucht. Es war ja auch nur ein kleines Flugzeug, mit nur einer kleinen Bordapotheke. Du mußt verstehen, ich konnte Dich doch nicht so leiden lassen. Schließlich habe ich Dich geliebt, liebe Dich immer noch. Deine Schmerzen schienen unerträglich zu sein, die Wunden begannen sich auch schon langsam zu entzünden. Und immer noch war keine Rettung in Sicht, wirklich nicht. Lange Zeit habe ich überlegt, viele Stunden lang, solange, bis die Wirkung der letzten Spritze vorüber war. Wieder hast Du geschrien, ich konnte das nicht mehr ertragen, wie Du Dich so gequält hast. Ich dachte, ich tue Dir damit einen Gefallen, als ich das Messer ansetzte. Ich habe versucht, Dich möglichst schnell zu töten, ohne Dir noch mehr unnötige Schmerzen zu bereiten.
Und nun sitze ich hier in der Badewanne, neben mir eine offene Packung Rasierklingen. Vor zwei Tagen wird mich hier niemand vermissen, alle denken, ich wäre in der anderen Wohnung. Ich kann mit dieser schrecklichen Schuld nicht mehr länger weiterleben, obwohl man mich vor Gericht bereits freigesprochen hat. Es lastet zu schwer auf mir, ich kann nicht mehr ruhig schlafen, nicht mehr klar denken, mich nicht mehr konzentrieren, außer auf diese Rasierklinge, die ich jetzt ruhig und konzentriert an meinem Hals ansetze. Andere werden sagen, daß ich mir diese Vorwürfe umsonst mache, daß ich keine andere Wahl hatte. Aber ich weiß es besser, weiß, daß Du heute noch leben könntest. Denn eine halbe Stunde nach Deinem Tod fanden uns die Suchmanschaften.


Jäger im Dunklen

Der Mond steht am Himmel, taucht die Umgebung in sein helles, gespenstisches Licht. Schatten huschen durch den Wald, die meisten von Tieren oder sich bewegenden Blättern, aber auch viele von anderen Wesen. Merkwürdig geformte Wurzeln und Steine sehen im Dunklen aus wie Monster, scheinen den Wanderer festzuhalten, können sogar tödliche Fallen bilden. Gerade eben gerät ein Dachs in solch eine Schlinge, geformt aus Wurzeln und Ranken. Er hängt fest, windet sich, zappelt. Aber seine Bemühungen sind vergeblich, langsam aber sicher zieht sich die Schlinge immer fester um seinen Hals, er beginnt zu ersticken. Dann ein letztes Aufbäumen, gefolgt von Ruhe. Ein anderes Wesen nähert sich, nur als Schatten gegen den helleren Hintergrund erkennbar, unheimlich, grauenhaft. Eine riesige Pranke mit langen, messerscharfen Krallen streckt sich nach dem verendeten Tier aus, greift es vorsichtig und löst die Schlinge. Nachdem es die Falle wieder in Ordnung gebracht und alle Spuren verwischt hat, entfernt sich die kreatur langsam wieder, immer darauf bedacht, kein Geräusch zu machen, keine Spur zu hinterlassen, immer in Deckung zu bleiben. Ein kurzer, gedrungener Körper ruht leicht nach vorne gebeugt auf zwei unförmigen Beinen, ein langer Schwanz raschelt durch das Unterholz. Das Wesen ist etwa zwei Meter groß, hat eine lange Schnauze und zwei spitze Hörner. Plötzlich hält es an, schnüffelt in alle Richtungen, horcht, ist endlich beruhigt. Lange Fangzähne kommen zum Vorschein, als es seine Beute zu zerreißen beginnt. Sowie es seine Mahlzeit beendet hat, geht es weiter, diesmal auf allen Vieren und sehr viel behender als vorher. Schnell ist es in der Dunkelheit des Waldes verschwunden, denn die Nacht wird bald vorüber sein. Tagsüber läßt es sich draußen nie sehen, dann gehört der Wald den Menschen, den spielenden Kindern und den sich austobenden Haustieren. Das ihm nichts aus, es ist daran gewöhnt. Aber wehe, wenn einmal ein Mensch nachts seinen Weg kreuzt. Denn dann gehört der Wald ihm, dann ist alles, was sich bewegt, seine Beute...


Vater sein dagegen sehr

Mother hold her little daughter
twenty minutes under water.
Not to make her any trouble,
but to see the fancy bubbles.

Der Junge im Keller schreit immer noch. Es ist erstaunlich, welche Ausdauer Kinder doch haben. Ein Erwachsener hätte schon lange erschöpft aufgegeben, wäre heiser oder etwas anderes. Nicht so dieser Junge. Schon seit drei Stunden schreit er jetzt ununterbrochen um Hilfe, so laut, daß es sogar trotz der Schallisolierung bis in die Küche zu hören ist. Ich glaube, langsam muß ich ihm den Mund verbieten. Schließlich habe ich hier zu arbeiten, dafür benötige ich Konzentration und Ruhe.
Ich öffne die Tür zum Keller, und sofort verstummt das Schreien. Der Junge kauert dort in einer Ecke, eine halbe Treppe unter mir, ohne Möglichkeit, sich vor mir zu verstecken. Dabei wollte ich ihm wirklich nichts böses tun, wollte ihm nur ein besseres Leben bieten, eine Familie, eine Zukunft. Doch er rief um Hilfe, als ich ihn mit in mein Auto nahm, versuchte mehrmals wegzulaufen, auch nachdem ich ihm sein neues Zuhause gezeigt hatte und will sich scheinbar nicht einmal jetzt mit seinem Schicksal abfinden.
"Wenn du ruhig bist, können wir darüber reden." Ich bin wirklich kompromißbereit, vielleicht möchte er ja nur etwas...
"Ich will nach Hause."
Langsam merkt man seiner Stimme doch die Belastung an. Sie klingt leicht heiser, noch nicht stark, aber wenn er weiter so brüllt wie bisher, wird er in kurzer Zeit kein Wort mehr sagen können.
"Dein Zuhause ist jetzt hier. Warum willst du das nicht einsehen? Hast du es hier nicht viel schöner als vorher? Und wenn du keinen Ärger mehr machst, darfst du auch wieder aus dem Keller."
Feindseligkeit blitzt in seinen Augen auf. Das verstehe ich nicht, kann er denn nicht einsehen, daß es so besser für ihn ist? Dabei sieht er eigentlich intelligent genug aus, gar nicht so verstockt, wie er sich gibt.
"Möchtest du etwas essen?"
"Nein. Ich will nach Hause."
Vor soviel Dickköpfigkeit ziehe ich mich zurück. Kaum ist die Kellertür wieder zu, schon schreit er erneut. Soll er ruhig, hier kann ihn niemand hören. Die Kinder vor ihm waren ähnlich verstockt, ich hoffe nur, ich muß nicht auch bei ihm drastische Maßnahmen ergreifen.

Das kleine Mädchen dort hinten sieht aus, als wäre sie wie für mich geschaffen. Ihre Mutter sitzt neben dem Spielplatz, scheint sich aber weiter nicht darum zu kümmern, daß sie von älteren Kindern herumgeschubst wird. Vielleicht sollte ich mich ihrer annehmen, vielleicht habe ich ja diesmal mehr Erfolg...


Zeit für eine Party

Wer behauptet hier, ein ganz normaler Mensch sei nicht verrückt?

Diese Party ist toll. Obwohl ich vorher etwas skeptisch war, schließlich, was kann man schon erwarten, wenn Sandra, ausgerechnet Sandra, nur neun Leute zu ihrem achtzehnten Geburtstag einlädt. Aber im Großen und Ganzen scheint es ein voller Erfolg zu werden, scheinen alle zufrieden zu sein, wenn sich auch jeder auf seine Weise amüsiert. Nadine, Michael und Saskia sind draußen im Garten, teilen sich dort wohl einen Joint, Andre und Ywonne sind schon vor einer halben Stunde nach oben verschwunden, wo die anderen sind... keine Ahnung! Langsam beginnt der Alkohol mir zu Kopf zu steigen, wenn ich jetzt nicht aufpasse, bin ich bald betrunken. Da kommt Sandra in den Raum, sieht mich an und verdunkelt das Licht. Dieser eine Blick hat ausgereicht, mich auf der Stelle wieder halbwegs nüchtern werden zu lassen. Ich lege eine neue CD ein und gehe auf sie zu, nehme sie in den Arm und küsse sie. Dann tanzen wir, eng aneinander geschmiegt, die Welt um uns herum völlig vergessend. Plötzlich verstummt die Musik und das Licht im Nebenraum erlischt.
"Oh Shit, die Sicherung." Mit diesen Worten windet Sandra sich los, eilt zur Tür hinaus und läßt mich vollkommen verblüfft zurück. Ich kann nicht anders, ich muß einfach laut lachen, zu klischeehaft ist diese Situation, in jeder zweiten Komödie passiert so etwas.
Dann kommt Sandra zurück, gegen die Tür zum vom Mond etwas erleuchteten Nebenraum kann ich deutlich ihre Silhouette erkennen. Merkwürdig langsam geht sie, und schwanken. Sie stolpert über die Schwelle und fällt zu Boden und bleibt reglos liegen. Mit einem Satz bin ich bei ihr, will sie auf den Rücken drehen und fahre entsetzt zurück, wobei ich beinahe laut aufgeschrien hätte. Meine Hände sind mit einer warmen, klebrigen Flüssigkeit bedeckt, mein Verstand weigert sich einfach einzugestehen, daß es Blut ist, aber für einen kurzen Augenblick haben meine Finger ein großes Messer berührt, welches aus Sandras Rücken ragt. Ich will aufstehen, will Hilfe holen, bleibe aber wie erstarrt sitzen. Ein lauter Schrei zerreißt die Stille der Nacht und endet in einem schrecklichen Gurgeln und Röcheln. Danach ist es ruhig, zu ruhig für meine überlasteten Nerven. Ich weiß nicht, wie lange ich dort sitze, zu meinen Füßen die immer größer werdende Blutlache, den Blick starr auf die Leiche gerichtet. Ich atme nur flach, damit mir kein Geräusch der Nacht entgeht. Doch als ich eine Veränderung in der Umgebung bemerke, sträuben sich meine Nackenhaare. Angestrengt lausche ich weiter, bis mir mit einem Schlag klar wird, was die Veränderung ist. Hinter mir höre ich leise Atemzüge, der Atem eines Menschen, der sich in der Dunkelheit versteckt. Mir gerinnt vor Schreck fast das Blut in den Adern, als mir klar wird, daß diese Person direkt an mir vorbei in das Zimmer geschlichen sein muß, denn obwohl ich nur etwa drei Meter von der Tür entfernt bin, habe ich nicht das Geringste bemerkt. Dann höre ich das leichte Reiben von Stoff auf Stoff und reagiere kurz entschlossen, versuche mein Heil in der Flucht. Doch schon beim zweiten Schritt rutsche ich in der Blutlache aus. Während die große, dunkle Gestalt drohend über mir emporragt, noch bevor ich den kalten Stahl in meinen Körper eindringen fühle, wird mir die Ironie der Situation bewußt, daß nämlich ausgerechnet Sandra mich mit in ihren Tod reißen muß.

Wir interviewten einen der mit der Untersuchung beauftragten Polizisten:
"... fanden wir auf dem Grundstück die Leichen von zehn Jugendlichen, jeder mit einem anderen Messer getötet, dazu die Spuren einer elften Person, vermutlich des Mörders. Diese Spuren... sind jedoch so schwach, daß sie bisher kaum ausgewertet werden konnten. Die Tat ähnelt den Morden im Februar..."


Taschendieb

In God we trust. But all others pay in cash!

Seit mehr einer Stunde beobachtete der Mann jede Person in dem Lokal. Es war schon beeindruckend, wieviele wirklich persönliche Dinge man von den Leuten erfahren konnte, wenn man sich nur unauffällig genug verhielt. Er nahm einen großen Schluck von seinem Bier und ließ seine Augen erneut zur Bar wandern. Die Frau saß immer noch dort, trank einen Martini nach dem anderen und schien den Alkohol überhaupt nicht zu spüren. Der jüngere der beiden Kellner flirtete wieder mit den beiden Mädchen in der Ecke. Und das wichtigste: Der Aktenkoffer stand immer noch unter dem Tisch neben ihm, anscheinend herrenlos, vielleicht von einem Betrunkenen vergessen. Langsam stand er auf und schlenderte zur Bar. Er ließ sich auf dem Hocker neben der Frau nieder und betrachtete sie unverhohlen. Als sie ihm schließlich ihre Aufmerksamkeit widmete, winkte er dem Barkeeper zu. "Was möchtest du trinken?"
Sie betrachtete ihn abschätzend und wandte sich wieder ihrem Glas zu.
"Verpiß dich", sagte sie.
Trotzdem bestellte er zwei Martini pur und schob ihr den einen hin.
"Ich habe gesagt, verpiß dich. Also, hau ab." Sie zog ihre Handtasche zu sich, holte einen Schein heraus und reichte ihn dem Barkeeper. "Ich bezahle meine Drinks selber."
Achselzuckend drehte der Mann sich um und ließ seine Augen wieder umherwandern. Aus den Augenwinkeln beobachtete er den Barkeeper, der gerade am anderen Ende der Theke beschäftigt war und griff dabei vorsichtig hinter sich. Er mußte sich Mühe geben, nicht laut aufzulachen, als er bemerkte, daß er recht gehabt hatte. Die Frau war doch schon so betrunken, daß sie ihre Handtasche einfach liegengelassen hatte. Er griff hinein und zog ein paar Geldscheine heraus. Ohne sie zu zählen, da er nicht auffallen wollte, steckte er sie einfach in die Tasche und ging wieder zu seinem Tisch zurück. Dort bestellte er ein Bier und betrachtete seine Beute. Es hatte sich gelohnt, sogar mehr als nur gelohnt. Etwas mehr als zweihundert Mark waren eigentlich schon genug für einen einzigen Abend. Aber da sich nun einmal eine günstige Gelegenheit bot, wollte er sie nutzen. Deshalb wartete er noch eine Weile ab, bevor er bezahlte und das Lokal verließ. Im Hinausgehen griff er unauffällig nach dem Aktenkoffer am Nebentisch.
Erst, als er ein paar Straßen weiter in seinem Auto saß, fühlte er sich wieder sicher. Das war schon fast mehr Risiko, als er sich erlauben konnte. Normalerweise begnügte er sich mit einem Diebstahl pro Lokal, um nicht unnötig aufzufallen. Schließlich wollte er wiederkommen, mußte er wiederkommen, um sich seinen Lebensunterhalt zu verdienen. Dieses Lokal zumindest würde er für die nächsten paar Wochen nicht mehr aufsuchen. Sein Blick fiel wieder auf den Aktenkoffer. Hoffentlich war er das Risiko wert gewesen. Der Koffer war verschlossen, aber billig und deshalb mit einem Messer leicht zu öffnen.
Es war das letzte, was er in seinem Leben tat.

Der Mann stand in einer in einer Telephonzelle. Aus dem Gedächtnis heraus wähle er eine Nummer, ließ es zehn mal läuten und legte wieder auf. Eine halbe Stunde später stand er in einer anderen Zelle, wählte wieder eine Nummer, wieder aus dem Gedächtnis. Diesmal ließ er es dreizehn mal klingeln, bevor er auflegte. Gleich darauf ging er zum Telephon nebenan und wählte eine dritte Nummer. Eine Frauenstimme meldete sich.
"Ja?"
"Achim hier."
"Wer?"
"Achim Sode."
"Falsch verbunden."
Der Mann legte auf. Geraume Zeit später, nachdem er scheinbar ziellos durch die Straßen gewandert war, rief er wieder eine andere Nummer an. Diesmal meldete sich ein Mann.
"Ja?"
"Hier Maximilian."
"Was?"
"Etwas ist schiefgelaufen. Der Koffer ist weg."
"Wie konnte das geschehen?"
"Ein dummer Zufall. Aber der Dieb hat die Falle übersehen."
"Hat er überlebt?"
"Bei zwei Kilo C4? Es gibt kaum noch eine Leiche!"
"Wer war er?"
"Keine Ahnung, wahrscheinlich ein Taschendieb, wir gehen der Sache nach."
"Ich brauche zwei Wochen, um die Akten neu zu kopieren."
"Gleicher Treffpunkt?"
"Nein. Ich melde mich."
"Karl macht sich Sorgen."
"Ich melde mich!"
"O.k."
Ein Klicken, dann war die Leitung tot.


Angst vor der Dunkelheit?

Im Lichte der wenigen intakten Straßenlaternen sah die Straße wirklich gespenstisch aus. Abfälle lagen überall umher, verstreut von Ratten und streunenden Hunden. Glasscherben knirschten unter den Schuhen der Frau, als sie aus dem Hauseingang trat. Schmerzgepeinigt stöhnte sie auf, als sie sich im Dunkeln ihr Schienbein an einem alten Stuhl stieß. Mit schnellen Schritten ging sie die Straße entlang, wandte sich an der nächsten Ecke nach rechts und lief weiter. Aus einem Hauseingang direkt vor ihr löste sich plötzlich ein Schatten. Vor Schreck schrie sie leise auf und zuckte ängstlich zurück. "Entschuldigung." Eine heisere Männerstimme, nicht gerade geeignet, ihr Vertrauen zu erwecken. Dann trat er ganz aus dem dunklen Hauseingang heraus und eine etwas entfernt stehende Straßenlaterne beleuchtete sein Gesicht. Geblendet von der plötzlichen relativen Helligkeit blinzelte er kurz, eine Geste, die aus irgendeinem Grunde vertrauenerweckend auf die Frau wirkte.
"Haben Sie vielleicht Feuer?"
Erleichtert atmete sie aus, bemerkte erst jetzt, daß sie die ganze Zeit die Luft angehalten hatte.
"Aber natürlich."
Sie griff in ihre Handtasche und suchte ihr Feuerzeug. Ein erneuter Schreck überkam sie, als der Mann in seine Jackentasche griff. Aber er holte nur eine Packung Zigaretten heraus und bot ihr eine an. Dann zündete er langsam und umständlich erst ihre und dann seine Zigarette an, gab ihr anschließend das Feuerzeug zurück und betrachtete sie prüfend.
"Haben sie heute Abend noch etwas vor? Vielleicht kann ich ihnen einen Drink spendieren?"
Die Zigarette wirkte weiter beruhigend auf die Frau, so daß sie einen Augenblick lang ernsthaft über das Angebot nachdachte.
Vor einigen Wochen hatte sie sich von Ralph getrennt. Sein Alkoholkonsum und seine Frauengeschichten waren ihr schon lange zu viel gewesen, aber als sie ihn mit einer seiner Freundinnen bei sich in ihrer eigenen Wohnung erwischte, hatte sie ihn kurzerhand vor die Tür gesetzt. Seitdem hatte sie sich vergraben, keine Freunde angerufen, war abends nicht mehr ausgegangen. Warum also nicht einmal wieder den Abend in angenehmer Gesellschaft verbringen? Aber dann kamen ihr doch Bedenken.
"Danke nein, vielleicht ein andermal." Wie um ihre Worte zu bekräftigen schüttelte sie den Kopf und ging weiter. Hinter ihr erklangen Schritte und ihr Magen zog sich in einer Aufwallung plötzlicher Panik zusammen. Gehetzt blickte sie sich um, aber der Mann ging nur in den Hauseingang zurück. Leise über sich selber lachend ging sie weiter.
Mehrere Häuserblocks weiter fand sie endlich einen Zigarettenautomaten, wahrscheinlich den einzigen funktionierenden in der gesamten näheren Umgebung. Sie zog eine Packung Camel und ging zurück. Wieder einmal erklangen schnelle Schritte hinter ihr und sie wandte sich um. Eine in einen langen Mantel gehüllte Gestalt näherte sich ihr, doch nach einer kurzen Schrecksekunde ging sie einfach weiter. "Nicht noch einmal", murmelte sie vor sich hin. Das Geräusch der Schritte verstummte und als sie sich umblickte, sah sie die Gestalt in einen Hausflur gehen. "Du siehst zu viele Krimis!" Merkwürdigerweise schien sie sich trotz dieser mutigen Worte kein bißchen besser zu fühlen.
Von weitem sah sie schon die Stelle, wo der Mann sie angesprochen hatte. Plötzlich überwältigte ihre Einsamkeit sie. Er war eigentlich ganz höflich gewesen, auf jeden Fall besser als ihr Exfreund. Vielleicht hätte sie seine Einladung doch annehmen sollen. Dann sah sie eine dunkle Silhouette an der Hauswand lehnen und entschied sich, ihn kurzerhand anzusprechen. Vielleicht galt sein Angebot noch, es würde ihr guttun, wieder einmal neue Leute kennenzulernen.
"Hallo", sagte sie halblaut, als sie sich ihm näherte. Die Gestalt stand reglos, ohne auf sie zu reagieren. Dann hatte sie ihn erreicht, faßte ihn am Ärmel und wollte ihn erneut ansprechen. Plötzlich fiel er einfach um. Wie ein nasser Sack schlug er zu Boden, sein Gesicht traf mit einem ekligen Klatschen auf der Erde auf und das Schlimmste daran war, daß er danach einfach liegenblieb. Sofort, noch bevor sie darüber nachdenken konnte, kniete sie neben ihm, wollte an seiner Schulter rütteln. Doch ihre Hand verharrte auf halbem Wege. "Hallo. Was ist..." Dann drang das Unfaßbare endlich in ihr Bewußtsein ein: Sein Kopf rollte einfach davon, nur ein paar Zentimeter, bevor er liegenblieb, aber er rollte eben einfach davon.
Schreiend rannte sie weg, ohne auf die Richtung zu achten, ohne hinter sich zu schauen. Sie schrie aus Leibeskräften, jedenfalls dachte sie es, bis sie schließlich bemerkte, daß in Wirklichkeit kein Ton aus ihrer vom Schock zugeschnürten Kehle drang. Dann blieb sie stehen und schaute hinter sich. Nirgendwo war das Licht angegangen, keine Menschen rannte auf die Straße, alles war noch unverändert. Bis auf den Unbekannten. Sie bildete sich immer noch ein, seine Gestalt am Boden liegen zu sehen, den Kopf etwas vom Körper entfernt, bildete sich ein, wie er sie angrinste. Dann tauchte ein anderes Bild vor ihrem inneren Auge auf: Eine Gestalt mit einem großen Messer, die langsam auf sie zu schlich, verstohlen und leise. Blitzartig fuhr sie herum, aber dort war niemand. Dann ein Geräusch: Aus dem Hauseingang trat jemand, über der Schulter eine reglose Gestalt, lehnte sie an die Mauer und hob den am Boden liegenden wieder auf. Entsetzt mußte sie mit ansehen, wie die Gestalt den Kopf der Leiche aufhob und ihn ihr wieder aufsetzte. Es sollte das Letzte sein, was sie in ihrem Leben sah, bevor eine kleine, unbedeutend erscheinende Arterie in ihrer Schläfe platzte und sie lautlos zusammenbrach.

Eine heisere Männerstimme war von dem Band zu hören. "Ich wußte, daß ich deswegen gefaßt werden würde. Aber sollte ich die Frau dort liegen lassen? Ein paar Minuten vorher habe ich sie noch angemacht, sie eingeladen. Dann komme ich aus dem Haus und sehe von weitem jemanden zusammenbrechen. Ich habe natürlich einen Krankenwagen gerufen, als ich sah, was los war. Aber was sollte ich denn machen?" Er räusperte sich. "Ganz im Vertrauen: Kann ich mit mildernden Umständen rechnen? Ich war doch betrunken. Und außerdem, was ist das schon, der Versuch, ein paar Schaufensterpuppen zu stehlen?"


Looser

Wieso Stadt X? Das war bei mir um die Ecke!

Mein Leben lang habe ich immer nur getan, was andere von mir verlangten. Oder anders herum, ich habe immer genau das gelassen, was mir verboten wurde. Wenn es hieß: Phillip, iß nicht mit den Fingern, bohre nicht in der Nase, wasch dir die Hände, komm nach Hause, geh spielen, spiele nicht mit Streichhölzern...
Oft innerlich mit den Zähnen knirschend, gehorchte ich dann. Oh nein, ich war beileibe kein Musterknabe, auf gar keinen Fall. Nicht immer war ich so folgsam, aber wenn ich so zurückdenke, war ich es immer dann, wenn es darauf ankam. Und das zählt ja wohl, oder? Ich lernte sehr schnell, daß es keinen Zweck hat, sich zu widersetzen. Auf lange Sicht zog ich doch immer den kürzeren. Mein ganzes Leben lang habe ich mich so unterdrücken lassen, von meinen Eltern, meinen Freunden, meinen Lehrern - einfach von jedem.
Ich habe Abitur gemacht - nicht auf dem Gymnasium, welches ich besuchen wollte, weil alle meine Freunde dorthin gingen, nein, auf dem, das meine Eltern für mich aussuchten. Weil es von mir so erwartet wurde, war ich Jahrgangsbester. Danach habe ich studiert, nicht etwa Medizin, um dann Chirurg zu werden, wie es seit meinem zwölften Lebensjahr mein Traum war, sondern Jura, wie mein Vater es mir empfahl. Als ich dreiundzwanzig war, litt meine Freundin unter morgendlicher Übelkeit. Genau so, wie alle es von mir erwarteten, heiratete ich sie auf der Stelle, kurz bevor ihr Arzt eine Darmgrippe diagnostizierte. Die Ehe hielt fast genau fünf Jahre, aber eigentlich nur so lange, weil meine Großmutter der Meinung war, die Ehe vor Gott sei heilig. Als sie dann jedoch starb, frage mein Vater mich irgendwann einmal, wann ich diese Farce endlich beenden wolle. Nun bin ich also wieder ledig.
Und jetzt einmal ehrlich, ist das nicht ein total verpfuschtes Leben? Das Gehorchen ist mir in Fleisch und Blut übergegangen, ist zu einem echten Komplex geworden, so sehr, daß ich fast schon ein schlechtes Gewissen bekomme, wenn mir jemand einen guten Tag wünscht - und dieser Wunsch nicht in Erfüllung geht. Ich weiß, das ist krank und ich sollte damit zu einem Psychiater gehen. Aber meine Großtante sagte immer, zu einem Seelenklempner würden nur solche Leute gehen, die auch in die Gummizelle zu den anderen Napoleons und so gehörten. Und ich konnte ihr doch nicht widersprechen...
Irgendwie bin ich jetzt aber auch stolz auf mich. Zum ersten Mal in meinem Leben, zumindest soweit ich mich erinnern kann, habe ich eine wirklich wichtige Entscheidung vollkommen selbst gefällt, ohne mir von anderen dabei etwas ein- oder ausreden zu lassen. Ich habe nämlich beschlossen, Schluß zu machen. Einfach so, ohne speziellen Anlaß. Ich wachte heute morgen auf und mein Entschluß stand fest. Um ganz sicher zu gehen, habe ich auch mit niemandem darüber gesprochen und mein Abschiedsbrief steckt in meiner Tasche, weil ich mich selbst nämlich kenne. Es würde keine Minute dauern, mir mein Vorhaben auszureden.
Also wirklich, aus zwölf Stockwerken Höhe hat man wirklich einen guten Überblick über die Stadt, besonders, wenn man nicht aus einem Fenster schaut, sondern vom Rand eines Daches. Es sitzt sich sehr gemütlich hier, so direkt über der Regenrinne, die Beine im Abgrund baumelnd. Die Sonne scheint, es ist angenehm warm, aber dabei nicht heiß. Ein leichter Wind weht, hier oben etwas stärker zu spüren als vorhin auf der Straße, dabei aber nicht so stark, daß er mich vom Dach pusten könnte. Wobei mich das jetzt auch nicht mehr stören würde. Merkwürdig, eigentlich bin ich ja noch nie besonders schwindelfrei gewesen, aber heute macht das mir nichts aus. Ich weiß genau, über kurz oder lang werde ich springen und diese Gewißheit läßt die Angst verschwinden. Es gibt jetzt für mich nichts mehr, keine Regeln, keine Einschränkungen, gar nichts, außer einem Ziel - das Pflaster dort unten.
Von hier oben sehen die Menschen aus wie Ameisen. Wie sie dort durcheinanderwimmeln. Jetzt schaut einer zu mir auf, zeigt auf mich. Sofort stehen mehrere zusammen und schauen. Ein Auto hält an, dann noch eines. Plötzlich staut sich der Verkehr, Hupen schallt zu mir herauf. Ich winke ihnen zu, immer bemüht, höflich zu sein. Mehr und mehr Menschen versammeln sich dort, deuten auf mich, gestikulieren wild und laufen herum. Ich glaube, ich habe den Ameisenhaufen in Aufruhr gebracht. Auf irgendeine Art und Weise gibt mir das ein Gefühl der Wichtigkeit, der Macht über andere. Auch wenn ich ihnen nichts befehlen kann, so bin ich doch in der Lage, ihren Tagesablauf durcheinanderzubringen. Es ist ein unglaublich erhebendes Gefühl, so auf sie herabzublicken und sich ihre Ängste vorzustellen. Andererseits glaube ich, die meisten Leute dort unten haben nicht so sehr Angst, ich könnte springen, sondern warten nur neugierig darauf. Das ist doch hier wie im Zirkus: Kein Mensch würde dem Seiltänzer so gespannt zusehen, wenn das Seil nur zehn Zentimeter über dem Boden gespannt wäre. Aber, wenn sich jemand in Lebensgefahr befindet, wenn zu erwarten ist, daß gleich Blut spritzen wird, dann gibt es immer wieder Schaulustige, die Vorgeben, nur um diese Person Angst zu haben, innerlich dem scheinbar Unausweichlichen aber nur entgegenfiebern. Und da kommen ja auch schon diejenigen, die wirklich daran interessiert sind, diese Begebenheit, meinen Sprung nämlich, zu verhindern: Ein Polizeiwagen kommt langsam die Straße herunter gefahren, muß immer wieder anhalten, bis ein anderes Auto Platz macht, steckt schließlich völlig im Verkehr fest. Weitere Blaulichter sind in einiger Entfernung zu sehen, jetzt auch ein Leiterwagen der Feuerwehr. Mehrere Polizisten kommen im Laufschritt näher, sie sind wahrscheinlich weiter hinten aus dem im Stau steckenden Wagen ausgestiegen, und versuchen, die Menge zu zerstreuen. Einige von ihnen laufen in das Haus hinein, ich glaube, ich werde hier bald Besuch bekommen.
Es dauert fast fünf Minuten, bis sich schließlich ein Kopf aus der Dachluke streckt. Der Mann sieht sich vorsichtig um, erblickt mich und versucht sofort, ein freundliches Gesicht zu machen. Es geht einfach nicht anders, ich muß mir noch einen Spaß erlauben, darum falle ich ihm ins Wort, als er gerade anfangen will zu sprechen und erkläre, ich würde nur mit einer jungen Frau reden. Das dürfe aber nur durch das Fenster geschehen, wenn ich jemanden auf dem Dach bemerke, würde ich sofort springen. Er verstummt, die erste Silbe von "Hallo" auf den Lippen, und starrt mich groß an. Dann scheinen meine Worte ihn erreicht zu haben und er zieht sich zurück. Armer Kerl, ich habe ihn wohl völlig aus dem Konzept gebracht. Es vergehen weitere zehn Minuten, dann erscheint das Gesicht einer Frau, einer jungen Frau, ach was sage ich, sogar einer sehr gut aussehenden Frau am Fenster. Sie fragt mich nicht, warum ich springen will, wie ich es eigentlich erwartet hatte, sondern fängt ganz harmlos ein Gespräch über Gott und die Welt an. Ohne zu wissen, wie es kam, merke ich plötzlich, daß schon etwas über eine Stunde vergangen ist, daß sie plötzlich neben mir auf der Dachkante sitzt, eben außer Reichweite, um mich nicht zu beunruhigen, und daß wir uns großartig unterhalten. Sie hat mich wirklich total abgelenkt und außerdem begonnen, meinen festen Entschluß schon ins Wanken zu bringen. Ich beschließe, nicht so viel darüber nachzudenken, damit ich es mir nicht mehr anders überlegen kann.
Die Zeit vergeht, allmählich werde ich nervös. Ich kann sie doch nicht einfach so sitzen lassen und springen, es wäre unhöflich, das Gespräch auf diese Art und Weise zu unterbrechen. Aber gleichzeitig merke ich, daß es gar nicht so einfach ist, an etwas zu denken, woran ich nicht denken will. Ich glaube, das kann kaum jemand und wenn doch, dann gratuliere ich dieser Person für ihr Konzentrationsvermögen. Immer wieder kehrt der Gedanke daran zurück, wie schön doch das Leben ist. Jetzt spreche ich auch schon mit der Frau, sie heißt übrigens Claudia, hat einen festen Freund, den sie bald heiraten will, denkt aber noch nicht an Kinder, über den Grund meines Hierseins. Es ist merkwürdig, aber mit dieser eigentlich völlig Fremden kann ich über all diese Probleme reden, die ich seit Jahren in mich hineinfresse. Unglaublich, nicht wahr?
Schließlich passiert es doch, als ich gerade dabei bin, mich zu entschließen, doch einmal unhöflich zu sein, weil ich merke, daß sie mich schon fast überzeugt hat. Aber ich weiß auch, wenn ich jetzt umkehre, werde ich nie wieder den Mut aufbringen, es zu tun, nicht in einer Million Jahre. Außerdem sind meine Probleme eigentlich in keinster Weise gelöst, nur aufgeschoben, in weite Ferne gerückt durch dieses Gespräch und damit irgendwie unwirklich erscheinend. Wenn ich jetzt wieder hineingehe, dann werden sie zurückkommen und mich regelrecht erschlagen. Und mitten in diese Gedanken herein dringt plötzlich ein Ruf an mein Ohr. Claudia sagt noch, ich solle nicht darauf hören, es wäre nur ihr Chef, der langsam die Geduld verliere. Aber ich habe es dennoch gehört, und es dringt tief in mein Denken ein. Von unten herauf hat er mit einem Megaphon gerufen, daß der Verrückte da oben - damit muß er wohl mich meinen - jetzt endlich herunterkommen solle, er hätte nicht den ganzen Tag Zeit. Und wie ich es schon eingangs erwähnte – ich tue immer genau das, was die Leute mir sagen...


Ohne Hoffnung

Leise ist in einiger Entfernung das Läuten von Kirchenglocken zu hören. Die Sonne hat den Zenit erreicht und sendet vom wolkenlosen Himmel herab gnadenlos ihre sengenden Strahlen. Der Mann sieht sich um, schlendert langsam die Einkaufsstraßen entlang, betrachtet hier die Auslagen vor den Souvenirläden, kauft dort eine Kleinigkeit, schlendert weiter. Immer schön langsam, denn in der Mittagshitze dieses Augusttages ist sowieso schon jede Bewegung zuviel, treibt einem selbst die kleinste Anstrengung den Schweiß auf die Stirn. Er tritt hinein in einen der vielen kleinen Läden, oder besser, herunter, denn es führen einige Stufen von der Straße hinab in den im Keller des Hauses liegenden winzigen, düsteren aber dafür herrlich kühl anmutenden Raum.
Ein merkwürdiges Sammelsurium von Gegenständen bietet sich dort dem Kunden zum Kauf oder aber einfach nur zum Bestaunen. Eine afrikanische Buschtrommel hängt an der Wand über einem Tisch aus Rosenholz, auf dem neben einer alten Ausgabe von Shakespeare eine Weihnachtspyramide aus Thüringen steht. Ein ausgestopfter Papagei in der Ecke scheint ein Abendkleid der Pariser Mode des frühen achtzehnten Jahrhunderts zu bewundern. Ein Degen liegt quer über dem Modell eines deutschen U-Bootes. Scheinbar ohne jede Ordnung liegen die Dinge hier auf- und nebeneinander gestapelt, gewähren stellenweise nur schmale Gänge zwischen regelrechten Türmen aus Büchern Durchgang. Ganz hinten im Laden steht ein wuchtiger alter Schreibtisch, bis obenhin vollgepackt mit Zetteln und Büchern, obenauf ein Paar Stiefel.
Auf das Geräusch der Schritte hin erscheint über den Stiefelspitzen ein Gesicht, verhält kurz beim Anblick des Besuchers. Dann zieht der Ladenbesitzer seine Beine vom Tisch und richtet sich in voller Größe auf. Sichtlich erfreut begrüßt er seinen Gast, ja, es ginge ihm gut und auch das Geschäft laufe hervorragend. Schließlich stellt er die Frage, die der Mann schon die ganze Zeit hinter der so beherrschten Fassade vermutete, ob er etwas für ihn habe. Und wirklich, er zieht einige Fetzen Papier aus seiner Brieftasche, legt sie vorsichtig auf den alten Tisch. Die Augen des alten Mannes leuchten auf, schnell greift er hinter sich in ein Regal und holt ein uraltes Buch heraus. Mit behutsamen, fast liebevollen Bewegungen glättet er die mitgebrachten Papierfetzen und schlägt das Buch auf. Nach kurzer Suche findet er eine zur Hälfte abgerissene Seite, die genau zu einem der Stücke zu passen scheint. Nicht lange dauert es, bis er alle in das Buch eingepaßt hat, hier nur eine Ecke, dort gleich eine ganze Seite, herausgerissen vor langer Zeit von einem unbekannten Vandalen, wie es scheint. Doch dann ist sein Werk vollbracht, sind alle Seiten wieder vollständig, die losen Stücke sorgfältig mit Klebeband fixiert.
Er schlägt das Buch auf der ersten Seite auf und beginnt zu lesen. Obwohl er leise spricht scheinen seine Worte alles zu durchdringen, erfüllen seinen Gast mit unerklärlichem Entsetzen, als er Worten aus einer andern, längst vergessen Sprache eines schon lange toten Volkes vernimmt. Das Buch beginnt von innen her zu leuchten, in einem grünen, unheimlichen Licht. Die zerrissenen und geknickten Seiten glätten sich wieder, fügen sich wie von Geisterhand zusammen, die verblaßte Schrift erwacht zu neuer Frische, der zerknautschte Einband gewinnt neue, feste Form. Als das Leuchten schließlich erlischt, liegt das Buch wieder da wie neu gebunden, genau so, als ob es nie beschädigt worden wäre.
Der Ladenbesitzer hat sich währenddessen verändert, ist auf eine unerklärliche und unheimliche Weise verändert, strahlt auf einmal Stärke aus, Stärke jedoch, die unterlegt ist mit Furcht und Grauen. Noch während sein Besucher ungläubig aufschaut verändert er sich weiter, ziehen sich seine Augen in die Höhlen zurück, werden seine Brauen schmaler, die Nase spitzer, die Ohren kleiner. Langsam hebt er seinen Blick, schaut jetzt dem Überbringer der Zettel in die Augen. Dieser weicht zurück, starrt entsetzt auf den Mann, dessen Aussehen ihm plötzlich bekannt vorkommt, auch wenn sein Vertand die klaren Zusammenhänge nicht erfassen kann oder will, preßt seinen Rücken gegen eines der Regale, unfähig, die Augen von denen seines Gegenübers zu lösen. Dieses unheimliche Wesen, von dessen vielen Namen er nur einige kennt, auch wenn er es im Moment nicht einmal wagt, diese zu denken, geschweige denn auszusprechen, weil er damit etwas zugeben würde, was seine bisherige Vorstellung von der Welt vollständig über den Haufen werfen und ihn selbst dem Wahnsinn verfallen lassen müßte, diese Kreatur nun streckt ihre Hand aus und reicht ihm einen schweren Beutel, sagt ihm er solle gehen und das Gesehene vergessen. Unfähig, sich diesem Befehl zu widersetzen, greift er nach dem ihm dargebotenen Lohn, stolpert in Richtung Tür, wagt es nicht, seinen Blick abzuwenden. Dann, kurz vor dem Ausgang überwältigt ihn die Panik, er dreht sich um und rennt aus dem Laden, in den Ohren noch das Lachen des Unaussprechlichen, im Herzen ein Grauen, das auch im hellen Sonnenschein nicht schwinden will, das ihn noch die nächsten Jahre verfolgen wird. Nackte Angst beschleunigt seine Schritte, er wagt es nicht mehr, sich umzusehen, da er tief in seinem Inneren weiß, daß seine Furcht nicht unbegründet ist, daß hier mehr auf dem Spiel steht als nur sein Leben und daß es keine Möglichkeit für ihn gibt, vor dieser absoluten Wahrheit Schutz zu finden.


Todestrauma

Mit einem Angstschrei auf den Lippen setze ich mich im Bett auf. Nur mit Mühe gelingt es mir, mich wieder zu beruhigen. Die Dunkelheit im Zimmer trägt dazu nicht gerade bei. Aber wenn ich eben noch Todesangst hatte, weiß ich jetzt schon nicht mehr, wovor eigentlich. Das ist das schlimmste daran - ich kann mich nie erinnern. Obwohl ich von Zeit zu Zeit denke, daß das nicht unbedingt von Nachteil sein muß. Denn die grauenhafte Angst ist Wirklichkeit und tief in meinem Unterbewußtsein weiß ich, daß sie nicht unbegründet ist.
Nachdem ich wieder einigermaßen klar bin, schwinge ich die Beine aus dem Bett und mache Licht. Jetzt bloß nicht liegenbleiben, ich muß mich beschäftigen und ablenken. Denn immer dann, wenn ich die Augen schließe, geht es wieder los. Ich suche mir etwas eßbares aus dem Kühlschrank und trinke ein großes Glas Milch dazu. Im Fernsehen läuft nichts interessantes, so werde ich eben jemanden anrufen. Mal sehen, wer ist wohl so spät noch wach? Nach langem Klingeln nimmt Josi endlich ab, ich habe sie doch geweckt. Nein, mir geht es gut, ich habe bloß Langeweile. Ob sie Lust habe, noch vorbeizukommen. Das kam nicht besonders gut an, sie meint etwas von halb vier und legt auf. Trotzdem klingelt es fünf Minuten später an der Tür und sie steht davor. Lächelnd kommt sie herein und umarmt mich mit allen sechs Tentakeln...

Nein!
Ich setze mich auf den Boden und konzentriere mich. Nach nur wenigen Sekunden schwebe ich langsam empor. Die Lampe kommt näher und näher, plötzlich kann ich nicht mehr bremsen und pralle mit Schwung gegen die Decke...

Nein!
Krampfhaft versuche ich, meine Gedanken unter Kontrolle zu halten, doch mit jedem Versuch entgleiten mir wieder einige Tatsachen. Die Sonne scheint hell durch das Fenster - nein - der Mond - nein - die Straßenlaterne, doch der Ton vom Fernseher ist noch zu leise...

Nein!
Nur mit einer großen Willensanstrengung gelingt es mir, die Welt um mich herum wieder zu normalisieren. Die Angst ist zurückgekehrt und stärker als jemals zuvor. Mein ganzer Körper tut mir weh und jede Bewegung ist mit großen Schwierigkeiten verbunden. Plötzlich stürzen die Wände ein und drohen, mich unter sich zu begraben...

Nein!
Ich habe gräßliche Kopfschmerzen und kann kaum noch einen klaren Gedanken fassen. Immer dunkler wird es um mich herum, immer dunkler. Aber das ist nicht das Schlimmste, denn gleichzeitig wird die Angst wieder stärker. Ich schreie, versuche, nach imaginären Gestalten zu schlagen und bin schließlich nicht einmal mehr dazu in der Lage. Dunkle Schatten scheinen nach mir zu greifen und ich kann nichts dagegen machen...

Lieber Alfred,
Du hast mich gebeten, Dir ganz offen und ehrlich mitzuteilen, wie Dein Vater starb. Nun, nach der Einlieferung in das städtische Krankenhaus war zuerst keine Veränderung seiner Situation abzusehen. Aber Samstag, mitten in der Nacht, begann er plötzlich wie wild um sich zu schlagen. Wenige Sekunden später lag er wieder ruhig da. Diese Anfälle wiederholten sich noch einige Male, manchmal stärker, manchmal schwächer. Die Schwester verständigte den Arzt, als dieser jedoch eintraf, konnte er nur noch den Tod feststellen. Später stellte sich heraus, daß eine akute Gehirnblutung verantwortlich war.
Du kannst aber beruhigt sein, der Arzt meinte, er kann von alledem nicht mehr viel mitbekommen haben, denn die Gehirnschädigungen durch den Unfall waren so stark, daß de facto nur noch sein Körper am Leben gehalten wurde. Das Bewußtsein hat er nicht mehr wiedererlangt.
Es tut mir leid, aber Du wolltest die volle Wahrheit hören und ich glaube, Du bist jetzt auch alt genug, sie zu verkraften. Wenn ich ansonsten etwas für Dich tun kann, so gib mir einfach Bescheid...